--- Zeitgeschehensreflexionen im Wirrwarr der Lebensfluten

Dienstag, 30. April 2013

Aufruf zur Alleinunternehmung.


Aufruf zur Einsamen Unternehmungslustigkeit!


Ich möchte heute von den diversen Profiten einsamer Unternehmungen sprechen:
Kürzlich war ich alleine im Theater. Das war schön. Und schrecklich. Ich sah mir die Inszenierung von „Jeder stirbt für sich allein“ im Thalia-Theater an. Ins Thalia-Theater sollten wir alle viel häufiger gehen. Ein bald am Sternenhimmel der Theaterwelt aufsteigender, ambitionierter Jungkünstler beriet mich erst kürzlich bezüglich der renommiertesten Theater Deutschlands. Er mutmaßte, das Thalia-Theater sei das Beste unseres Landes. Bisher kann ich dem nur beipflichten. Zunächst durfte ich „Faust I“ aus der aktuellen Spielzeit im Thalia bestaunen und ich bereue es nicht, den Weg dorthin alleine gemacht zu haben, denn nachdem meine Erwartungen an „Faust I“ dank eines Schulausfluges in das Lübecker Theater so schwer verwundet wurden, dass sie sofort per Notarztwagen auf die Intensivstation mussten und aufgrund zu schwerwiegender Traumata vorübergehend ins künstliche Koma versetzt wurden, konnten sie nun endlich wieder erweckt werden. Nach dem Bestaunen des Stückes war es sogar möglich, sie ohne Rehabilitationspflicht ein paar Runden über die große, schwarzhölzerne Bühne steppen zu lassen, denn meine Erwartungen wurden de facto übertroffen. Meine Empfindungen für Goethe spielen sich nun endlich wieder auf einem für Goethe angemessenen Niveau ab, sodass ich ihn auch bei Bedarf angemessen propagieren kann, nicht mehr von dem verstörenden Lübecker Theatererlebnis beirrt.
Mein nächstes Experiment im alleinigen Theaterbesuch startete ich mit einem Werk von Hans Fallada. Damit begab ich mich auch auf ein höheres Level der Alleinunternehmungsschwierigkeitsskala, denn der Kontext des Romans umfasste den Widerstand gegen das Naziregime vor 1945. Grübeln vorprogrammiert. (Hoffentlich liest mein Akupunkteur das nicht, er hat mir nämlich gesagt, dass Grübeln schlecht für meine geschwächte Milz ist.)
Jedenfalls liefen mir beim Sehen von „Jeder stirbt für sich allein“ mindestens 4 kalte Schauer den Rücken herunter, Gänsehaut überfiel mich und lies mich nicht mehr los, ich musste 300 Milliliter stille, salzige Tränen vergießen und dachte auch viel daran, wie unvorstellbar es ist, das meine eigenen Großeltern samt meines Vaters auch an der Flucht teilgenommen hatten, dass sie in dieser Zeit gelebt hatten. Daran, dass früher all die Häuser in Hamburg, die es bis ins Jetzt überstanden haben, so anders aussahen, dass es keine Iphones gab, die uns ständig dabei behilflich waren, uns von der Realität abzulenken, obwohl die Realitätsflucht damals doch viel mehr Sinn gemacht hätte, unter dem Regime, über das ich mir noch nicht anmaßen möchte, irgendetwas zu schreiben, weil ich nicht glaube, dass ich den Schrecken, die Grausamkeit dieser Vergangenheit in adäquaten Worten zu beschreiben vermag.
Im Theater, ich war dort alleine, ich bin dagewesen, weil es für mich gepasst hat, weil ich Lust hatte, die Entscheidungen kamen bei beiden Stücken ziemlich spontan, ich musste da auch nicht hin, weil ich mich sozial verpflichtet hatte, ich war zu diesem Zeitpunkt ein freier Mensch. Herrlich.
Was es mir gebracht hat? Eine fokussierte Wahrnehmung des Stückes, eigene Eindrücke, eine selbstständig entwickelte Meinung, weil ich während der Bildung dieser Meinung nur mit mir selbst in Diskussion gehen konnte. Ich war nicht abgelenkt von meinem Gegenüber, ich konnte mich ganz auf das Hier und Jetzt einlassen.
Am Ende stirbt doch auch wirklich jeder für sich selbst, nicht nur bei Hans Fallada, auch im echten Leben. Wir können alle Menschen verlassen, nur uns selbst nicht, außer vielleicht, wir werden schizophren, aber selbst dann können wir nur zwischen A und B springen. In all dem Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung vergessen wir uns selbst. Und wir müssen auch nicht befürchten, sofort eine schizoide Persönlichkeitsstörung zu entwickeln, wenn wir ab und zu auch „einzelgängerischen“ Aktivitäten nachgehen.
Für den Hipster gilt das „Sich-selbst-vergessen“ auf jeden Fall schon mal, das möchte ich hiermit deutlich postulieren. Die suchen doch alle nach dieser angebeteten gesellschaftlichen Anerkennung und verrennen sich so sehr in dieses Streben, dass sie ihre wahren Interessen vergessen. Hasst mich jetzt ruhig.
Ich möchte außerdem postulieren, dass man sich individuell durch den Tag schwingen soll, anstatt immer nur mitzulaufen. Alleine ins Kino gehen. Alleine Essen, im Restaurant. Alleine ein Bild malen. Alleine ein Projekt starten.
Manchmal muss ich schmunzeln, wenn ich all die roten Mützen auf den Köpfen unserer individuellen Jugend sehe, mit den Fjällräven-Rucksäcken in allen Farben des Regenbogens auf dem Rücken, die von all diesen Mützenliebhabern durch die Gegend flaniert werden. Dann heißt es, sich dem seit Jahrhunderten unveränderten Smalltalk, Klatsch und Tratsch hinzugeben und darüber zu vergessen, sich einfach mal eigene Gedanken zu machen. Sich selbst zu vergessen, das scheint das Ziel zu sein, Zweck ist die Verdrängung der Vergänglichkeit, oder so ähnlich. Q. e. d. Ich stelle mir gern vor, wie sich all die Köpfe mit den roten Mützen und den Fjällräven-Rucksäcken adrett hinstellen, arrangiert wie zum Klassenfoto, und auf 3 gemeinsam rufen: „Wir sind alle Individuen!“, ungefähr so wie bei dem Leben des Brian.
Bei einer Alleinunternehmung würden solche Miseren nicht passieren. Also los, alleine ins Thalia-Theater, Hamburger! Als ersten Schritt zur Befreiung! Christoph Waltz hat auch mal am Thalia-Theater gespielt.

Ob, wer auch immer diesen Artikel bis ans Ende gelesen hat, es schafft, sich wenigstens über eben diesen eine eigene Meinung zu bilden, selbständig und ohne Hilfe von Mitmenschen, bleibt abzuwarten. Aber als Belohnung für die Tapferkeit und Ausdauer beim Lesen möchte ich jedem von euch aufgeweckten Geistern noch drei Randomdinge für die kommende Zeit mitgeben. Sie lauten „pseudointellektuell“, „Die Sendung mit der Maus“ und „Lena Dunham“. Adé.